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Frisch am Morgen um 8.50 Uhr komme ich eilig an unserem Treffpunkt an: Die Orangerie. In der Menge erkenne ich ein paar bekannte Gesichter. Mein Deutschgrundkurs. Angekommen mit meinem Deutschlehrer. Noch etwas müde entschuldige ich mich für die kleine Verspätung, welches mit einem Nicken meines Lehrers erwidert wird. Wir müssen ohnehin noch warten, da sich der Dichter CRAUSS noch für seine Vorlesung vorbereitet. Nur einige von uns suchen schon nach Gesprächen, um sich die Zeit zu vertreiben, die meisten aber wirken noch verschlafen und in sich gekehrt. Es nieselt. Es herrscht eine sehr ruhige Atmosphäre. Die Rasenflächen und die Bäume sind nass. Vor mir steht im leichten Nebel das gelbe Gebäude der Orangerie. Mit starrem Blick sehe ich mir das gelbe Haus an und frage mich, wie dieser Dichter, dessen Namen CRAUSS ich zuvor noch nie gehört habe, wohl sein wird. „Was werde ich passend zu unserem aktuellen Thema der Lyrik lernen?“, frage ich mich, „Wird es interessant sein oder gewinnt die Langeweile, die in der stillen Umgebung liegt?“ Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, denn die Tür zur Bücherei öffnet sich und wir gehen hinein.

Etwas aufgeregt und flüsternd setzen wir uns auf die im Halbkreis aufgestellten Stuhlreihen. Vorne steht ein kleiner Tisch und rechts daneben eine Beamerleinwand: „Unterwegsein“ ist darauf passend zum aktuellen Thema unseres Deutschunterrichts zu lesen. Ich habe mich schnell für einen Platz in der ersten Reihe entschieden und bereitete mein Schreibmaterial vor.

Dann erscheint ein rothaariger und etwas dicklicher Mann mit Brille neben dem Beamer. Dass also ist er, denke ich. Es wird ganz still im Raum. CRAUSS stellt sich in einem sanften, aber doch etwas energischen Ton vor und bedankt sich lächelnd für unser Kommen. Er macht wirklich einen sehr ruhigen und sympathischen Eindruck. Diese Ruhe gleicht der Stille, die ich vor wenigen Minuten draußen vor der Orangerie erlebte.

CRAUSS erzählt uns von seiner Lieblingstätigkeit, vom Verreisen und Unterwegssein. Sein Notizbuch habe er da eigentlich immer dabei. Er braucht es, um seine Eindrücke festzuhalten und die Gefühle und Gedanken zu verdichten. Aber nicht nur Gefühle und Gedanken hält er in seinem Notizbuch fest, sondern auch die Geschichten, Ausdrücke und Personen, die ihm an den verschiedenen Orten begegnen. Auch die Lesung selbst sei für ihn eine Form des Unterwegsseins und vielleicht wird er sich auch etwas zu dem notieren, was er hier mit uns erlebt.

Nun liest CRAUSS. Gedichte vom Unterwegssein. Seine ruhige Sprechweise ändert sich, dynamisch und auch lautstark trägt er seine Texte vor. Seine erregte Tonlage reist mich mit und ich versuche die Gefühle zu erfassen, die er in seinen Gedichten verarbeitet hat. Oft zeigt sich Hektik und die Orientierungslosigkeit in seinen Texten. Worum geht es da gerade? Eine Reise in den Tod? Ein Flugzeug kurz vor dem Absturz? Ein Text nach Laurie Andersons Song „From the Air“ – wie ich inzwischen herausgefunden habe.

Nach drei Gedichten erzählt CRAUSS, dass er keine Texte mit verbrauchten Ausdrücken und unzeitgemäßen Formen verfassen möchte. Und auch wenn es eine weitverbreitete Vorstellung sei, dass Gedichte gereimt sein müssten, verzichte er weitgehend darauf, Reime zu verwenden.

Einer von uns Schülern will darauf wissen, ob er seine Sprache auch mit Blick auf bestimmte Zielgruppen gestalten würde. CRAUSS verneint das, denn es wäre nie seine Absicht, nur eine Zielgruppe anzusprechen, viel mehr möchte er gerne alle Menschen mit seinen Texten erreichen.

Eine Schülerin will wissen, ob er auch Gedichte publizieren würde, die ihm persönlich sehr nahe gingen. Diese Frage bejaht CRAUSS und verdeutlicht dies mit seinem Text „Alles über Ruth“, in dem er früheren Liebeskummer und Trennungsschmerz verarbeitet hat. Dabei verfasse er seine Texte aber immer so, dass er sich vom lyrischen Ich distanzieren kann und es ihn selbst nicht mehr so stark berühren oder treffen könne.

Aber CRAUSS geht es nicht nur um die Vorstellung und Darstellung seiner Werke, er will uns Literatur näherbringen, uns ein deutlicheres Gespür für Sprachgestaltung und künstlerischen Ausdruck geben. Darum bietet er auch uns einen seiner Texte zum Vortrag an. Der ist wirklich kompliziert zu lesen. Alles ist klein geschrieben und nicht nur durch deutsche, sondern auch durch englische Wörter reiht er Eindrücke eines Berlinbesuchs aneinander und produziert den Sound dieser Stadt. Der Schülerin, die den Versuch gewagt hat, gelingt es natürlich nicht so gut wie CRAUSS sich durch diese Art der abstrakten Verdichtung zu kämpfen, das ist unterhaltsam aber vor allem eine interessante Erfahrung.  

Als wir wieder draußen vor der Orangerie stehen, ist alles verändert. Der Morgennebel ist längst verschwunden und die Stille auch, wir tauschen lautstark unsere Eindrücke aus, Kommentare schwirren durch die Luft und bald richten sich die Gedanken schon wieder auf die nächsten Schulstunden. Wieder unterwegs in unserem normalen Schulablauf, denke ich. Aber doch mit einem unbestimmten Gefühl, dass Unterwegssein viel mehr sein kann. 

Yousra Bakouri